Hauptschüler gelten als chancenlos – und sie übernehmen dieses Denken. Auch Lena Herber glaubte, sie habe kaum Chancen auf dem Jobmarkt. Nun schließt sie ihr Studium ab.
Dass Lena Herber als Hauptschülerin einmal studieren würde, hätte keiner ihrer Lehrer gedacht. Bis zur dritten Klasse konnte sie kaum lesen. Schule war ihr nicht wichtig. Zu Hause kämpfte das Mädchen um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern. „Irgendwann hat eine Lehrerin mitbekommen, dass ich nicht lesen kann“, erinnert sich Lena. „Das fand ich natürlich total doof, denn das hieß für mich Nachhilfeunterricht.“
Heute ist Lena Herber 28 Jahre alt und steht kurz davor, ihren Master abzuschließen – Bildungsmanagement. Aber an diesem Tag besucht die ehemalige Hauptschülerin auf Einladung eines Lehrers die neunte Klasse der Amalia-Earhardt-Oberschule, eine Hauptschule im Osten Berlins. Lena, die auf einem Bauernhof in Nordrhein-Westfalen aufwuchs, erzählt den Schülern ihre eigene Geschichte, um Mut zu machen. Es ist still. Keiner der Schüler spricht.
Nach der Grundschule kam Lena Herber auf eine Hauptschule. Was das bedeutete, verstand sie lange nicht. „Ich habe mich gewundert, wo meine alten Klassenkameraden sind“, sagt sie. „Ich habe auch nicht verstanden, warum die anderen Eltern nicht erlaubten, dass wir wie früher nach der Schule spielen dürfen.“
Mittlerweile kann sie die Entscheidung der Eltern ihrer ehemaligen Spielkameraden einordnen: „Mit Hauptschülern spielt man eben nicht. Die Eltern hatten sicher Angst, dass meine Schwierigkeiten mit dem Lernen auf ihre Kinder abfärben.“
„Immer wenn ich in einen Klassenraum an einer Hauptschule gehe, kommen mir die gleichen Gefühle entgegen, die ich als Schülerin ebenso fühlte“, sagt die junge Frau. „Man spürt immer noch die Unsicherheit, die Chancenlosigkeit, die die Schüler für sich vereinnahmt haben.“ Die Klasse ist noch immer still. „Was wollt ihr werden?“, fragt Lena Herber in die Runde. Achselzucken. Erst als sie direkt angesprochen werden, antworten einige Mädchen, dass sie Arzthelferin werden wollen. Und sonst? Für fast alle Wunsch-Ausbildungsberufe ist mindestens ein guter Realschulabschluss nötig.
Lena Herber weiß, wie schwierig es ist, einen Beruf zu finden, den man machen möchte, aber mit seinem Abschluss auch machen kann. Als Teenager wollte sie Fotografin werden. Als sie ihrem damaligen Lehrer ihren Wunsch erklärte, sagte der nur: „Such dir was anderes, das kannst du nicht. Dafür brauchst du einen Realschulabschluss.“ Auf ihre Antwort, dass sie dann eben einen Realschulabschluss mache, habe ihr Lehrer geantwortet, dass sie dafür zu schlecht sei. Hilflos habe sie sich da gefühlt, erinnert sich die junge Frau. „Mein Selbstbewusstsein war im Keller.“
Sie wollte weg. Weg von dem Gedanken sie sei nicht gut genug, am Besten ins Ausland. Sie wusste nicht, dass es auch Organisationen gibt, die dies für Hauptschüler anbieten. Das passte nicht in ihr Bild. In ihrem Kopf brauchte sie dafür einen Realschulabschluss. Nun hatte die Schülerin ein Ziel. Sie lernte, schrieb gute Noten – und machte mit Leichtigkeit ihren Abschluss. Kurz davor bewarb sie sich eigenständig bei der Organisation Youth for Understanding und konnte im Anschluss für ein Jahr nach Brasilien. Das Land schien ihr weit weg genug.
„Du warst im Ausland?“, fragt einer der Schüler. „Das kann man auch als Hauptschüler? War das schwierig?“ Das Thema stößt auf reges Interesse. Viele können sich vorstellen, Deutschland für einige Zeit zu verlassen. Daran gedacht, sich bei einer Organisation zu bewerben, hat keiner in der Klasse.
„Ich hätte auch nie gedacht, dass die mich nehmen“, sagt Lena Herber. In Brasilien lernte sie innerhalb eines Jahres fließend Portugiesisch sprechen. Selbstbewusst und erwachsen kam sie zurück nach Deutschland und machte ihr Abitur. Danach begann sie Bildungsmanagement in Berlin zu studieren. Ganz bewusst habe sie sich für diesen Studiengang entschieden: Lena Herber will Bildung so mitgestalten, dass einen höheren Bildungsgrad zu erreichen, nicht mehr vom Zufall abhängt oder von einem besonders starken Willen einzelner Schüler.
Noch immer ist es in der Klasse ganz leise. Aber es ist eine andere Stille. Gebannt haben die künftigen Schulabgänger zugehört. Wie geht es ihnen jetzt? Langes Schweigen. Dann meldet sich der 16-jährige Dave. „Danke, dass du hier warst“, sagt er. „Es ist schön zu sehen, dass man aus etwas Kleinem etwas Großes machen kann.“ Jetzt meldet sich auch Joey. „Ich habe gesehen, dass ich an mich glauben darf.“
Wie lange der Eindruck bei den Schülern halten wird, bleibt fraglich. Wenn die Neuntklässler in den kommenden Wochen und Monaten Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz schreiben werden und Absagen erhalten, wenn die Jugendlichen von anderen für ihr Hauptschüler-Dasein gehänselt werden, sie von einigen Lehrern und Eltern demotiviert werden, können sie sich dann an die Geschichte der 28-Jährigen erinnern? Auch Lena Herbers Sozialisation in der Hauptschule wirkt bis heute nach. „Das Gefühl, dass ich nicht gut genug bin, begleitet mich bis heute.“ Aber sie hat gelernt, an sich zu glauben und bei Zweifel immer wieder aufzustehen. Und sie hat gelernt, sich nicht von anderen Menschen sagen zu lassen, was sie kann.